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Gewusst wie: Auslandsstudium mit Kind

Jennifer Eggert, Frankfurt / London

Ich weiß noch genau, wie überrascht ich damals, während des Bachelor-Studiums war, als ich innerhalb einer Woche durch Zufall heraus bekam, dass zwei Freunde, die so alt und im Studium ungefähr so weit waren wie ich, kleine Kinder hatten. “Wie?! Ihr habt ein Kind? Wie macht ihr das?”

Mischung aus Erstaunen, Respekt, Neugierde, Befremden

Die Art und Weise, wie ich sie mit einer Mischung aus Erstaunen, Respekt, Neugierde und Befremden ansah, muss wohl ungefähr den Blicken entsprochen haben, die ich immer wieder erntete, als mich ich Jahre später – der Bachelor war erfolgreich abgeschlossen und auch eine Weile gearbeitet hatte ich – als meine Tochter zwei war, dazu entschließ, doch noch einmal an die Uni zu gehen und einen Master zu machen.

Studium mit Kind – natürlich geht das

Studium mit Kind – natürlich geht das. Auch im Ausland (ich ging damals von Deutschland nach Großbritannien, um an der LSE in London einen Master in Konfliktstudien zu absolvieren). Wie? Hier sind neun Dinge, die mit geholfen haben:

1) Möglichkeiten zur Kinderbetreuung

Die LSE ist eine der Universitäten in London, die einen eigenen Kindergarten für Kinder zwischen 6 Monaten und 5 Jahren unterhält. Die Warteliste ist lang, aber wenn man sich sechs Monate bis ein Jahr vorher anmeldet, hat man gute Chancen, rechtzeitig einen Platz angeboten zu bekommen.

Der Kindergarten liegt sieben Minuten zu Fuß von der Uni entfernt und hat täglich von viertel vor neun bis viertel nach sechs geöffnet – so dass man es rechtzeitig zur ersten und von der letzten Vorlesung schafft. Ohne dieses Angebot hätte ich nicht studieren können. Es lohnt sich, vor Bewerbung zu erkundigen, wie die Kinderbetreuungssituation vor Ort aussieht. Wer keinen Platz in einem Unikindergarten bekommt (weil nichtexistent oder überfüllt), kann sich nach öffentlichen und privaten Kindergärten erkundigen – oder vielleicht kommt auch eine Tagesmutter oder ein Tagesvater in Frage?

2) Finanzielle Unterstützung

Die Plätze für Kinder von Studenten waren in unserem Unikindergarten gesponsert. Was hieß, dass wir nur die Hälfte des regulären Preises bezahlten. Auch hier gilt: Ohne dieses Angebot hätte ich nicht mit Kind studieren können. Viele Stipendiengeber bieten Kinder- oder Familienzuschläge an – längst nicht alle, aber doch ein Großteil. Auch wer über BAföG gefördert wird, kann einen Kinderzuschlag beantragen.

So lange man sich nur zeitweise und zu Ausbildungszwecken im Ausland aufhält, kann man in Deutschland gemeldet bleiben und weiter Kindergeld beziehen. Und vielleicht kann man es sich sogar so einrichten, dass man nebenbei noch etwas arbeitet, zum Beispiel abends von zu Hause. Ich habe einmal in der Woche abends Deutsch unterrichtet, während mein Kind beim Babysitter war.

3) Unterstützung durch Freunde und Familie

Natürlich ist ein Studium mit Kind (genauso wie Berufstätigkeit mit Kind) umso einfacher, je mehr Unterstützung man von Freunden und Familie erhält. Ideal ist ein Partner, der hilft, oder Großeltern zum Beispiel, die in der Nähe wohnen – doch selbst wenn man das nicht hat, kann man sich ein Netzwerk von Freunden aufbauen, die einen unterstützen.

Was bei mir unglaublich von Hilfe war, war, dass ich durch meine Mitgliedschaft in einer der Hochschulgruppen schnell eine Menge neuer Freundschaften schließen konnte. Die meisten waren ein ganzes Stück jünger als ich und ganz begeistert davon, mal auf das Kind aufzupassen. Hier gilt: keine falsche Bescheidenheit, sondern um Unterstützung bitten, wenn man sie braucht. Wer nichts sagt, kriegt nichts.

4) Austausch mit anderen Eltern

Ich erinnere mich noch genau daran, wie unglaublich hilfreich es war, nach den ersten Wochen Studium nach und nach über den Kindergarten, das morgenliche Hinbringen und Abholen am Abend, andere Eltern, die an der gleichen Universität studierten, kennen zu lernen. In meinem Kurs waren viele der anderen Studenten wesentlich jünger als ich – bis zu sechs Jahre -, ein Großteil hatte nie vorher gearbeitet, war von der Schule direkt an die Uni und nach dem Bachelorabschluss ohne Zwischenstopp hier an unsere Uni gekommen. Sie waren single, hatten kein Kind – unsere Lebenswelten hätten nicht unterschiedlicher sein könnten.

Aber da waren sie dann plötzlich – die “mature students”, wie man in Großbritannien so nett sagt, die auch ein Kind hatten (oder vielleicht sogar zwei) und zum Großteil sogar ein ganzes Stück älter waren als ich. Allein zu wissen, dass man nicht alleine war, jemanden zu haben, mit dem man abends gemeinsam Richtung Kindergarten hetzen konnte, um noch rechtzeitig vor Schließung das Kind abzuholen war unglaublich hilfreich.

5) Research skills

Ich weiß nicht mehr, wieviele Stunden ich gebraucht habe, um Antworten auf all die Fragen, die sich im Vorfeld meines Studiums mit Kind stellten, zu finden. Kinderbetreuung, Wohnen, Freizeitgestaltung, Gesundheitsversorgung und und und… Viele Universitäten haben in der Zwischenzeit Informationen zum Studium mit Kind auf ihren Webseiten, teilweise gibt es Hochschulgruppen zum Thema oder auch einen uni-internen Ansprechpartner.

Falls die Uni, die man sich ausgesucht hat, keine Informationen (auf der Webseite zum Beispiel) zur Verfügung stellt – vielleicht ist eine andere Uni in der selben Stadt schon weiter und man findet dort etwas Brauchbares. Ansonsten bietet das Internet eine Fülle an Infos, auf diversen Webseite, Foren, vielleicht auch in Social-Media-Netzwerken wie Facebook, studiVZ oder LinkedIn.

6) Stolz auf die eigene Leistung sein

Wenn man verrückt genug war, sich für ein Studium zu entscheiden, dass selbst Freunde, die keine Kinder haben, im Nachhinein als das intensivste Jahr ihres Lebens bezeichnen – dann sollte man sich auch der Leistung bewusst sein, die man bringt. Ich sehe meine Freundin Mariko, deren Tochter auch in den Uni-Kindergarten ging, noch genau vor mir, wie sie irgendwann, nach einem langen Tag, den wir in der Bibliothek verbracht hatten, und nach dem wir nicht einfach nach Hause gehen und dort auf die Couch fallen konnten, sondern erst mal ein aufgedrehtes Kleinkind in seine Jacke zwängen, Richtung U-Bahn zerren und zu Hause weiter versorgen mussten – wie sie sagte: “Weißt du, Jennifer, eigentlich ist unser Diplom, wenn wir es dann irgendwann mal haben, doppelt so viel wert wie das der anderen Studenten”. Wir sahen uns an, brachen in lautes Lachen aus – aber wussten doch, dass an dem, was sie gerade gesagt hatte, etwas dran war.

Und davon abgesehen, dass dieses Bewusstsein über die eigene Leistung extrem stärkend und motivierend sein kann – es ist auch etwas, was einem nach Abschluss des Studiums etwas bringt. Wenn ich in Bewerbungsgesprächen nach Belastungsfähigkeit, Flexibilität und meinem Umgang mit Stress gefragt – dann erwähne ich immer wieder auch dieses verrückte eine Jahr an der LSE.

7) Time management skills

Ich war nie ein Taglerner. Mein typischer Tag an der Uni als Bachelor-Student sah so aus, dass ich erst einmal ausschlief, gerne bis mittags, zu Hause meine Sachen erledigte, an der Uni in der Fakultätsratssitzung saß, schnell zur Vorlesung huschte, mit Freunden zu Mittag aß, an einem Treffen der lokalen Hochschulgruppe XY teilnahm, in der Stadt unterwegs war, abends mit Freunden kochte – gelernt habe ich am liebsten spätabends und nachts, und selten früher als einen Monat vor einer Klausur.

Mit Kind änderte sich das plötzlich. Ich musste jeden Tag früh aufstehen, der Kindergarten nahm die Kleinen nur bis um zehn an. Wenn ich also vormittags schon an der Uni war und wusste, bis abends komme ich nicht nach Hause – dann konnte ich auch gleich lernen. Nachtschichten und Binge-Lernen waren nicht mehr, schließlich musste ich morgens wieder fit sein. Also habe ich zum ersten Mal in meiner Unikarriere begonnen, a) kontinuierlich und b) tagsüber zu lernen. Weil ich wusste, dass ich die Zeiten, in denen ich kindfrei war, nutzen musste, tat ich das auch.

Ich lernte jeden Tag von halb zehn oder zehn bis fünf oder sechs (mit Pausen natürlich!) und war nicht weniger effektiv als Freunde von mir, die oft erst ein oder zwei Stunden bevor ich die Bücher zuklappte und mich in Richtung Kindergarten machte, in der Bibliothek angekommen waren. Letztendlich verbrachten wir mit Lernen wahrscheinlich die gleiche Zeit – es spielt keine Rolle, wann man lernt (und schlaflose Nächte vor Prüfungen sind oft kontraproduktiver als man es sich in Anflügen von Panik einredet).

8) Eigene Grenzen kennen

So sehr es mir geholfen hat, organisiert zu sein, sich gut informiert zu haben und zu wissen, dass man Ernormes leistete, so wichtig war es auch, zu wissen, wann man ganz dringend eine Pause brauchte. Man kann mit Kind studieren, aber es ist wesentlich anstrengender als ohne. Burnout ist keine schöne Sache – es hilft, zu wissen, wann genug ist, wann die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit erreicht sind.

Es ist wichtig, die Bremse zu ziehen (oder zumindest einen Gang runterzuschalten), sobald einem die ersten Anzeichen dafür, dass man fertig mit den Nerven und am Ende der Kräfte ist, auffallen. Je früher man gegensteuert, desto besser. Jetzt ist es eine gute Idee, Freunde oder Familie zu aktivieren, ein playdate oder einen Babysitter zu organisieren, was Schönes zu machen. Tee, Schokolade, ein Spaziergang, ein warmes Bad – oft sind es kleine Sachen, die schon viel helfen. Viele Unis bieten Unterstützung für überlastete Studenten an – da heißt es, sich zu informieren und falls nötig, ohne falsche Scham das Angebot in Anspruch nehmen.

9) Gelassenheit

Und wenn man dann alles ganz toll recherchiert und geplant hat, sich hier und da kundig gemacht, kindergarten-genetzwerkt und time-gemanaged hat – dann braucht man eigentlich nur noch eines: ein gesundes Maß an Gelassenheit. Gut, dann kann ich mich halt nicht in fünf Hochschulgruppen engagieren wie früher – geschenkt. Dann studier ich halt ein Semester länger, steige erst ein Jahr später wieder ins Studium ein – na und?

Ein Kind zu haben, hat mich unter anderem gelehrt, dass ein Großteil der Dinge, über die wir uns viel zu oft viel zu sehr aufregen, letztendlich so wichtig doch gar nicht sind. In jedem Fall gilt, dass keiner mehr leisten kann als es möglich ist. Es kommt nicht darauf an, so gut wie (oder besser als) die anderen zu sein, sondern das zu leisten, was du in der Situation, in der du dich befindest, zu leisten fähig bist – und das gilt übrigens für alle – ob mit oder ohne Kind.

Großer Bluff und mieser Trick – David Cameron spielt mit Europa

Arslan Deichsel, Brüssel

Nur einen Tag, nachdem am 22. Januar in Berlin die politische Klasse aus Frankreich und Deutschland zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages zusammenkam und die gemeinsame Freundschaft als Fundament der europäischen Integration beschworen, hält Premier David Cameron seine lang erwartete und mehrmals verschobene Grundsatzrede zur Zukunft des Vereinigten Königreichs in der EU.

Der befürchtete Präzedenzfall

In den letzten Wochen und Monaten wurde im Inselkönigreich, wie auch in manchen europäischen Schaltzentralen, mit einem Austritt – mal als Drohung, mal als Erlösung oder in Form des angekündigten Referendums als einem ur-demokratischer Vorgang – kokettiert, der der vermeintlich finsteren Brüsseler Beamterherrschaft gegenübersteht. Sollten sich die britischen Wähler, im Falle einer Wiederwahl Camerons, bis 2017 gegen die EU votieren, wäre dies nicht nur der befürchtete Präzedenzfall, für den die gemeinsamen Verträge keine Lösung vorsehen, sondern hätte auch EU-weite Konsequenzen. Dass Cameron die weitverbreitete anti-europäische Stimmung zu Hause durch das Verknüpfen mit seiner Wiederwahl lediglich ausnutzt, ist ein ebenso offensichtlicher wie rücksichtsloser Trick.

Keine Gewinner

Wie in jüngster Zeit viele gut durchdachte Artikel nüchtern analysierten, gäbe es eigentlich keine Gewinner eines solchen Austritts. Selbst diejenigen, die davon kurzfristig profitieren würden (z.B. die Achse Paris-Berlin; siehe unten), sähen sich an anderer Stelle neuen Problemen ausgesetzt.

Politisch-institutionelle Vorbehalte: Eigeninteressen gehen vor

Es gibt zwei Komponenten, die Londons Haltung gegenüber der EU prägen, ein politisch-institutionelle und eine psychologische. Es ist vor allem der Brüsseler Beamtenapparat, der ein als wenig demokratisch legitimiertes System repräsentiert, das tief in die staatliche Souveränität eingreift und Vorschriften macht, die viele Jobs kosten, insbesondere zurzeit im für Großbritannien so zentralen Finanzbereich, dessen Vertreter seit Jahren auf Hochtouren gegen die EU lobbyieren. Dies hat natürlich seinen Ursprung in der Fehlannahme, dass der europäische Staatenbund, wie historisch oft geschehen, über die „großen Themen“ wie Außen-, Sicherheits- und Finanzpolitik schon zusammenwachsen werde. Stattdessen verfolgten die Mitglieder neidisch ihre eigenen Interessen und verteidigten ihre jeweiligen Vorteile, so dass den europäischen Institutionen zur Daseinsberechtigung nur „kleinere Themen“ wie Gurkenkrümmung und Glühbirnenstromverbrauch blieben.

Psychologische Aspekte: “Klare Kanten” statt Kompromisse

Und hier kommt die psychologische Komponente ins Spiel. Noch vor weniger als 100 Jahren regierte London das größte Imperium der Weltgeschichte, sah sich als Wiege der Industrialisierung wie auch der liberalen Demokratie sowie Sieger in zwei Weltkriegen. Warum soll sich eine Atommacht, ein permanentes Sicherheitsratsmitglied mit special relations zu den USA dem „Brüsseler Diktat“ beugen? Seit fast einem Millennium wurde die Insel nicht mehr von außen erobert. Der politische Stil ist, anders als auf dem vormals von vielen Mächten umkämpften europäischen Kontinent, nicht durch Kompromiss und Ausgleich geprägt, sondern durch „klare Kanten“ und Polarisierung. In diesem System, wo Mehrheitswahlrecht eine aggressive Presse trifft, werden vor allem die lauten und radikalen belohnt.

Interne Faktoren: Sündenbock EU?

Seit neustem kommt hinzu, dass die betonte Abgrenzung zur EU und ihren wirtschaftlichen und politischen Krisen auch von internen britischen Problemen, wie sie sich 2011 in London Bahn brachen, ablenken sollen. Der politische Diskurs ist zurzeit anti-europäisch geprägt und Politiker lassen sich nur durch das Maß der jeweiligen Ablehnung differenzieren.

Schottische Unabhängigkeitsbestrebungen

Auch wenn das Thema überhaupt nicht lustig ist, kann man ihm doch einen Lacher abgewinnen – und zwar wenn es zu den schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen kommt. In den vergangenen Wahlen haben diejenigen politischen Kräfte in Edinburgh zugelegt, die für einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich sind, mit zum Teil den gleichen Argumenten, mit denen London gegen Brüssel argumentiert. Nur, dass England, dem dann die Einnahmen aus dem schottischen Öl- und Gasgeschäft fehlen würde, diese als zweitrangig abtut und stattdessen die Vorteile und Stärken einer gemeinsamen Union betont und de facto seine eigenen Argumente in der anderen Diskussion entkräftet.

Was wenn…?

Tragikomisch würde es aber dann werden, wenn die schottische Regierung das für Herbst 2014 vorgesehene Unabhängigkeitsreferendum gewänne, Schottland unabhängig würde und wie angekündigt in der EU bliebe – während dann für Camerons EU-Referendum, das nach seiner möglichen Wiederwahl 2015 abgehalten werden soll, die EU-freundlichen Schotten nicht mehr abstimmen könnten.

London ist nicht Oslo oder Bern

Ein EU-Austritt wird Londons Probleme mit der EU in keinem Fall beseitigen, vor allem nicht da Großbritannien weiterhin unbedingt vom Gemeinsamen Markt profitieren möchte. Die EU-Standards und Handelsregulierungen treffen sie, siehe Norwegen oder Schweiz, ob sie nun Mitglied sind oder nicht. Der Unterschied ist, ob sie als Mitglied über deren Ausgestaltung mitbestimmen können oder sie einfach als gegeben akzeptieren müssen. Auch EFTA-Modelle wie eben Norwegen oder die Schweiz sind für UK nicht attraktiv. Oslos auf Rohstoffexport (vor allem Öl, aber auch Holz, Metalle und Fisch) basierender Wohlstand kann auf den dienstleistungslastigen britischen Markt mit seiner geschrumpften und auf Importen angewiesenen Industrie nicht übertragen werden. Auch jede Regulierung einzeln auszuhandeln, wie es die Schweiz machen muss, wäre für eine moderne und stark ausdifferenzierte Volkswirtschaft wie Großbritannien wenig geeignet.

Keine ideale Lösung für den Finanzstandort London

Darüber hinaus hätte London als Finanzstandort nicht nur gegenüber der Schweiz das Nachsehen. Vom Brüsseler Reglement befreit richten sich die britischen Hoffnungen noch stärker auf die Londoner City. Doch ist zu erwarten, dass internationale Banken weiterhin an der EU mit seiner weltgrößten Nachfrage nach Finanzprodukten interessiert bleiben und, im digitalen Zeitalter, eher ihre Frankfurter, Pariser oder Wiener Filialen ausbauen würden als London. Um weiter im kontinentalen Geschäft zu bleiben, müssten die britischen Banken, als nicht-EU-Banken, einen gewaltigen Apparat aufbauen und an jedem größeren EU-Standort permanent an die EU berichten. Da kann die City noch so viel Geld für die Torys spenden.

Fakten versus öffentliche Meinung

Es ist eindeutig: als Nein-Sager in der EU zu bleiben, um eigene Interessen zu verteidigen sowie eine Stärkung der Achse Paris-Berlin und eine Verschiebung der Gewichte nach Osten zu verhindern, wäre für London die beste Lösung. Wirtschafts- und sogar sicherheitspolitisch würde ein Austritt der britischen Attraktivität und Bedeutung schaden. Doch Cameron, der das bestimmt auch weiß, kann es aufgrund der öffentlichen Meinung, des anti-europäischen Zeitgeistes in seinem Land, nicht laut sagen.

Auch für die EU nur scheinbar eine Erleichterung

Wie bereits erwähnt, wäre es auch für die EU selbst nur eine scheinbare Erleichterung. Großbritanniens Abspaltung könnte nicht nur andere Austritte zur Folge haben, sondern auch, trotz der gestrigen deutsch-französischen Bekundungen, die Spaltung der EU zwischen einem deutsch-dominierten Norden und einem französisch/romanisch-dominierten Süden massiv verstärken, mit ungeahnten Folgen.

Noch zwei Jahre bis zur Wahl

Noch hat Cameron mindestens zwei Jahre bis zur Wahl und ein Jahr, um zu überlegen, mit welchem Maß an EU-Ablehnung er in den Wahlkampf gehen will. Dass sein Koalitionspartner, die LibDems sowie die Labour-Opposition etwas europafreundlicher sind, spricht dafür, dass die Torys wohl einen Anti-EU-Kurs fahren werden. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Cameron versuchen wird die Deutungshoheit pro-europäisch zu verändern.

Bei verbesserter wirtschaftlicher Lage

Doch sollten sich die wirtschaftlichen Vorzeichen in der EU weiterhin verbessern, würden ihm wichtige Argumente fehlen und der britische Wahlkampf würde durch innenpolitische Probleme geprägt – und weder eine neue Olympiade, noch ein weiteres Thronjubiläum stehen zur Ablenkung bereit.

Das “Extrawurst-Szenario”

Nicht unwahrscheinlich ist aber auch ein weiteres „Extrawurst-Szenario“, wie es schon Thatcher mit dem „Briten-Rabatt“ ausgehandelt hat. Merkel, falls sie die Bundestagswahl überstehen sollte, und Holland könnten einige Zugeständnis an Cameron machen, der die Verträge wieder neu aufschnüren möchte, um mehr Flexibilität und demokratische Gerechtigkeit einzuführen. Sie könnten die Chance nutzen, durch einzelne Zugeständnisse an anderen Stellen voranzuschreiten und Cameron mit dem Argument mattsetzen, dass ER ja diese Neuverhandlung wollte und dafür eben die ein oder andere „bittere Pille“ akzeptieren muss. Sollte Cameron dann mit dem Austritt drohen, wäre es – wie hier beschrieben – eine leere Drohung, da er das Referendum nur als Vehikel zur Wiederwahl nutzt. Sollte es dann doch zum Austritt kommen, bei dem alle Beteiligten verlieren, stellt dies aber für Großbritannien den größeren Verlust und vermutlich der Abstieg in die Bedeutungslosigkeit dar. Es würde, wie Russland, als ehemalige Weltmacht und Imperium, nur noch gehalten vom ständigen UNSC-Sitz und mehreren Luft- und U-Boot-gestützten Atomwaffen. Cameron wäre dieser Eintrag in die Geschichtsbücher wohl nicht sehr lieb. Die EU-Staats- und Regierungschefs dürften sich zurücklehnen und lächelnd sagen: „David,wer nicht am Tisch sitzt, landet bald auf der Speisekarte“.