Ein Jahr nach Putins Rückkehr in den Kreml hat Moskau Oberwasser
Arslan Deichsel, Brüssel (2011/12)
Kreml in der Abenddämmerung (Bild-Credit)
Zurzeit kann sich Putin nicht beklagen. Ein Jahr nach seiner formalen Rückkehr als Präsident in den Kreml steht Russland zumindest außenpolitisch glänzend da. Gleichzeitig festigt Putin seine Herrschaft, die immer autoritärerer und nationalistischer daherkommt. Trotzdem deutet vieles auf eine erneute Annäherung an den Westen hin.
Läuft…
Weder hinsichtlich einer Lösung im syrischen Bürgerkrieg, noch bei der sich weiter in Zeitlupe zuspitzenden Frage des iranischen Atomprogramms, geht momentan etwas gegen Moskaus Widerstand. Darüber hinaus sitzen russische Spitzendiplomaten bei den aktuell brisanten Entwicklungen um Nordkorea oder der dann doch nicht stattfindenden Rettung des zypriotischen Finanzsektors mit am Verhandlungstisch. Chinas neuer Präsident Xi Jinping besucht bei seiner ersten Auslandsreise Moskau und bestellt dabei gleich Jagdflugzeuge und U-Boote. Gleichzeitig hat Moskau seine Beziehungen nach Polen, sogar ins Baltikum und nach Georgien verbessert und unterstützt die NATO bei ihrem Truppenabzug aus Afghanistan.
Innenpolitisch hat es die Moskauer Führung geschafft, die Proteste, die zwischen den Dumawahlen im Dezember 2011 und nach den Präsidentschaftswahlen im März 2012 ihren Höhepunkt erreichten, durch klassisches divide et impera, nämlich gezielte abschreckende Repressionen sowie Bestechung und Abwerbung, und massive Gegenpropaganda zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Zusätzlich ist vor wenigen Tagen Boris Beresowski gestorben. Der Oligarch und ehemalige Strippenzieher der späten Jelzin-Ära hatte den jungen Putin sogar unterstützt, wurde von diesem aber bei seinem Kampf gegen die mächtigen Oligarchen aus dem Land getrieben. Aus dem Londoner Exil tat sich Beresowski in den letzten zwölf Jahren vor allem durch die Unterstützung von Putins Gegnern hervor. Die Hintergründe seines Selbstmords sind noch nicht endgültig geklärt. Doch wird das Ende des letzten politisch relevanten Oligarchen, der nicht durch Putins Gnaden Reichtum erlangte, vom Kreml als finaler Sieg ausgeschlachtet.
Im Windschatten
Während Obama, der Russland vor einem Jahr in Seoul „mehr Flexibilität“ nach seiner Wiederwahl versprach, die USA langsam aus der Krise saniert, die EU weder wichtige wirtschaftliche noch politische Reformen durchsetzen kann und Chinas neue Führungsgeneration noch Personalfragen klärt und sich generell erst einmal einarbeitet, hat Moskau sich im Windschatten der Ereignisse politisch geschickt positioniert und seinen „diplomatischen Marktwert“ gesteigert.
Dabei nutzt Moskau seine neue wie plötzliche Beliebtheit und vollführt einen Kurswechsel. Der ruppige Ton, der seit dem Georgienkrieg 2008 herrschte und sich zwischen einerseits verstärkter (und berechtigter) westlicher Kritik an der immer repressiveren russischen Innenpolitik und andererseits einer zunehmend schrilleren anti-westlichen Rhetorik in Russland hochschaukelte, ist einem höflichen Entgegenkommen und gegenseitigem Nachsehen gewichen. Diese Offenheit korrespondiert interessanterweise mit kooperativen Phasen zu Beginn von Putins erster und zweiter Amtszeit.
Erste annähernde Schritte aber kein re-reset
Liegt also ein re-reset in der Luft? Wohl kaum. Einerseits ist der Begriff für Amerikaner wie Russen negativ beladen. Außerdem ist es noch zu früh, um an dessen plötzliches Ende anzuknüpfen. Andererseits ist das Entgegenkommen der USA in Hinblick auf die geplante vierte Stufe des EPAA, der europäischen Raketenabwehr, ein enorm wichtiger Schritt, den Moskau seit Jahren fordert. Dies lässt nach fast zwei Jahren auf einen Durchbruch bei den bilateralen Verhandlungen hinter den Kulissen schließen.
Auch Moskaus Entscheidung, Zypern nicht zu helfen, verwundert auf den ersten Blick. Zumal Gazprom auf die neuentdeckten Gasfelder vor Zyperns Küste sowie der Kreml auf eine Marinebasis in Limassol, die das syrische Tartus ersetzen und zum geplanten Aufbau einer russischen Mittelmeerflotte passen würde, verzichtet haben. Natürlich hat Moskau ein Interesse daran, das europäische Bankensystem nicht zu destabilisieren, dass Russen Steuern im Inland zahlen und ihr Geld nicht in einem funktionierenden EU-Rechtsstaat (der gleichzeitig eine riesige Steueroase ist) als safe haven vor willkürlichem staatlichem Zugriff schützen und ihn gleichzeitig zur Geldwäsche missbrauchen. Außerdem hätte es der russischen Öffentlichkeit nicht gefallen, wenn Milliarden zur Rettung der Oligarchen im Ausland gezahlt würden, während zu Hause das Geld an allen Ecken fehlt und Investitionen schnell versickern. Trotzdem überrascht es, dass Moskau sich die einmalige Chance entgehen lässt, sich als Retter eines Eurostaates zu präsentieren und stattdessen die verantwortungsvolle und prinzipientreue Regionalmacht von nebenan gibt. Ebenfalls ein nicht zu übersehendes Signal.
Russland als Player in der multipolaren Welt
Diese Anzeichen eines kleinen Tauwetters geben denen Recht, die seit Längerem betonen, dass es Putin eher darum geht, international ernst genommen zu werden, als konkrete politische Ergebnisse zu erreichen. Im Kreml gibt man sich pragmatisch, auch in Hinblick auf die selbst in der heimischen Presse ausgegebenen Ziele. Sich nach außen hin auf Augenhöhe mit den USA oder China zu präsentieren und vor allem mit am Verhandlungstisch zu sitzen, ist eine Sache. Diese Position dann aber ebenso schnell für Blockaden zu nutzen eine andere. Vielen westlichen (und vor allem osteuropäischen) Hauptstädten fehlt schlicht das Vertrauen, ebenso wie die Mehrzahl der Moskauer Eliten noch von altem Misstrauen gegenüber den USA oder der NATO erfüllt ist.
Es fällt schwer, diese Putinsche Volte für eine strategische Kehrwende zu halten und zu glauben, dass er seinen Traum von einer multipolaren Weltordnung starker, souveräner Staaten aufgegeben hat, in der er Russland zu einem wichtigen Player machen wollte. Noch in Syrien hat der Kreml ohne großes Zögern und auf Kosten Hunderttausender Toter und Millionen Vertriebener verhindert, dass sich ein „libysches Szenario“, aus Moskauer Sicht ein im Mantel humanitärer Intervention getarnter regime change á la coloured revolutions, wiederholt oder sich gar als legitimes Handlungsmuster etabliert. Hier wusste Moskau auch Peking ganz eng, aber still, an seiner Seite. Als sich das Erreichen dieses Ziels abzeichnete, hat Moskau Assad prompt die Unterstützung entzogen, damit der immer mehr an Boden verlierende Präsident, durch verzweifelte, völkerrechtswidrige Handlungen, das Ansehen des Kremls nicht noch mehr beschädigt.
Zyniker…
Aus zynischer Perspektive gibt Russland seine strategischen Ziele natürlich nicht auf, nutzt aber die Gunst der Stunde, um durch Entgegenkommen sein diplomatisches Image als „strategischer Partner“ aufzubessern um aus der „Diktatoren-Ecke“ herauszukommen. Moskau hat dieses Jahr den Vorsitz der G20 übernommen und im Februar für die Leitung und Organisation des ersten Treffens bereits viel Lob erhalten. Auch mit der Winter-Olympiade 2014 in Sochi sowie der Fußballweltmeisterschaft 2018 im Blick, möchte man sich nach außen als verantwortungs- und vertrauensvolles Mitglied der Weltgemeinschaft geben. (Im Kreml hat man die Europameisterschaft vergangenen Sommer in der Ukraine genau beobachtet). Doch Putin biedert sich dem Westen nicht an und muss auch seine Glaubwürdigkeit nach innen pflegen. Daher werden russische Ermittler auch weiterhin gegen NGOs und Stiftungen als vermeintliche ausländische Agenten vorgehen. Der neue Freiraum wird sofort genutzt, um der heimischen Opposition ihre ausländische Unterstützung durch NGOs zu entziehen und die eigene Herrschaft zu verfestigen.
…und Optimisten
Die optimistische Interpretation sieht im jüngsten russischen Verhalten hingegen insgesamt einen erneuten Schritt Russlands auf den Westen zu, da sie sich mit einer allein auf Energieträgern basierenden Rentenökonomie, einer katastrophalen demographischen Entwicklung und einem unkontrollierbaren wie korrupten Beamtenapparat ironischerweise nicht in der selbst angestrebten multipolaren Welt werden halten können. Auch der Traum einer Eurasischen Union wirkt, trotz erster wichtiger Schritte, weiterhin unrealistisch angesichts der wachsenden Bedeutung der chinesischen Supermacht an den östlichen Grenzen Russlands und der mangelnden Unterstützung der ehemaligen Sowjetrepubliken, die Moskau, Washington und Peking (ja sogar Brüssel) gegeneinander ausspielen und kein Interesse haben, sich erneut unter Moskaus Führung zu stellen. Das Vorgehen gegen ausländische NGOs ist in dieser Interpretation vielmehr ein Signal an den Westen, sich nicht zu tief in die russische Innenpolitik einzumischen. Ohne regelmäßige zu erwirtschaftende Überschüsse kann sich das derzeitige Regime, das sich vor allem über wachsende soziale Zuwendungen und massive Investitionen in Militär und Rüstung legitimiert, nicht dauerhaft halten. In der Hoffnung, dass die Krise in den westlichen Staaten langsam überwunden ist und sogar eine transatlantische Freihandelszone in realistische Nähe rückt, könnte sich eine (Wieder-)Annäherung an den Westen finanziell und wirtschaftlich lohnen.